Meine Favela Vidigal in Rio de Janeiro
“Mein Herz hat dich gewählt, is´ so! Und wenn mein Herz gewählt hat, dann folge ich ihm.”
Das ist ein Filmzitat aus dem Rio de Janeiro Favela Film “City of God”, das nicht nur gerade jetzt gut zum Artikel passt, sondern auch wirklich perfekt beschreibt, warum ich überhaupt im März in der Favela Vidigal in Rio landete.
Getrieben von meinem Herz und der Vorstellung mal auf einem Mototaxi durch eine Favela zu rasen startete ich in ein neues Abenteuer! …Aber erstmal alles auf Anfang!
Kein unnützes Wissen!
Das Klischee, woran du denkst, wenn du das Wort Favela hörst, stimmt! Gestapelte Häuser, Dreck, Kinder, die Fußball spielen, Armut und hohe Kriminalitätsraten! Jap! Das ist alles richtig!
Die ersten Favelas entstanden nach dem Ende der Sklaverei, als alle Menschen in die Städte strömten, um Arbeit zu finden. Der Wohnraum und das Geld waren natürlich knapp und so bauten sie neue, einfache Häuser an die Berghänge des Stadtrandes. Heute gibt es alleine über 1.000 Favelas in Rio, in denen geschätzte 30% der Bevölkerung unter manchmal katastrophalen Bedingungen leben. Der Name stammt übrigens von einer brasilianischen Kletterpflanze.
Doch, es tut sich was in den Favelas, denn mittlerweile versucht die Stadt in einigen für Infrastruktur zu sorgen, sie offiziell zu Stadtvierteln zu ernennen und veranstaltet regelmäßig Razzien, um beispielsweise die Drogenbanden zu verdrängen. Aber auch generell wurde der Zugang zu Bildung durch Stipendien vereinfacht, so dass viel mehr Menschen die Möglichkeit haben zu studieren, unabhängig davon wo sie leben und wie viel Geld sie haben.
Ab in die Favela Vidigal
Kurz nach dem Karneval wollten meine Backpacker- Freundin und ich das Zentrum Rios verlassen, um uns für die letzte Woche ein Hostel in der Nähe der Copacabana zu gönnen. Meine Wahl fiel dabei auf ein Hostel in der Favela Vidigal, denn die Fotos und Bewertungen sahen super aus. Und ganz klar, den Favela- Part fand ich dabei am spannendsten.
Lust auf Karneval in Rio?? Hier geht es zu meinem Erfahrungsbericht!
Wir fuhren mit einem Taxi quer durch Rio und stoppten unerwartet am großen Eingangstor der Favela Vidigal. Irgendwie aufgeregt versuchte uns der Fahrer was auf portugiesisch zu erklären, dass wir leider nicht verstanden. Also stieg er genervt aus dem Auto, hievte demonstrativ unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum und schmiss uns raus. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. “Ist es denn hier so gefährlich, dass selbst der Taxifahrer sich nicht in die Favela traut?”
Ja, und da standen wir dann nun, wie bestellt und nicht abgeholt! Die Sonne brannte, schlappe 38 Grad zur Mittagszeit, der Schweiß lief mir die Stirn hinunter und ich war sprachlos. “Ähm ja, was nun?”
Aller Anfang ist schwer
Viel los war hier und es war chaotisch. Hupende Motorräder fuhren an uns vorbei, Menschen lungerten am Straßenrand herum und Männer mit Handkarren wollten uns direkt frische Kokosnüsse andrehen. “Sollte ich hier wirklich nun mein Handy rausholen, um die Adresse des Hostels zu checken?” Ich war mir unsicher, aber es half ja nichts, wir mussten ja!
Der Routenplaner lotste uns erst die Straße hinauf und dann in eine kleine betonierte Gasse. Da waren sie endlich! Die bekannten Treppen, wie ich sie aus dem Film kannte. Aber mir war das in diesem Moment alles zu viel! Die Sonne, das Gewicht des Rucksacks, das Getümmel drumherum und dann auch noch die doofen Stufen. Die schmalen Treppen zwischen den heruntergekommen Häusern gabelten sich mal nach links und mal nach rechts. – Aber ich wollte ja!
Mein inneres Gefühl schrie: “Gefahr! Gefahr!” Und ich sah auch schon die Horrormeldung bildlich vor mir: “Zwei dumme naive Backpacker starben gestern in der Favela Vidigal!” Um dem ganzen Unbehagen noch eins draufzusetzen lag eine halbtote Katze auf der Treppe herum. “Oh Gott! Was hab ich uns da bloß eingebrockt!”
Rauchzeichen in der Favela Vidigal
Ich fragte eine Brasilianerin, die uns auf der Treppe entgegen kam nach dem Hostel. Glücklicherweise verstand sie mein Spanisch und sie rief irgendwas einem anderen Mann zu, der etwas weiter oben auf seiner Dachterasse saß. Auch dieser schrie plötzlich nach seinem Bruder oder so und nach nur wenigen Sekunden wusste das halbe Viertel, dass wir kommen. “Ups”, dachte ich. “Der ganzen Favela auch noch Bescheid sagen, dass leichte Opfer unterwegs waren wollte ich eigentlich nicht!”
Aber die Schreierei stellte sich als Kommunikation in der Favela heraus, wie die alten Indianer sich früher Rauchzeichen gaben. Wir erhielten prompt eine Antwort und tauchten tiefer und tiefer ins Treppen-Labyrinth ab.
In einer kleinen weiteren Gasse zeigte plötzlich mein Navi: “Sie haben ihr Ziel erreicht!” “Ja, wirklich? Sah ziemlich heruntergekommen aus!”
Aber der äußere Schein trügte und das moderne Innere des Hostels überraschte mich! Einige Backpacker saßen relaxt auf der Terrasse und genossen die grandiose Aussicht auf Ipanema! “War meine Angst im Vorfeld unbegründet gewesen?” – Egal, ich war völlig fertig, aber auch total erleichtert!
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Love in der Favela Vidigal
Die ersten Tage bewegte ich mich sehr unentspannt in der Favela Vidigal und fragte mich regelmäßig: “Darf ich hier nun einfach meine Kamera zücken? Wie gefährlich sind die Leute, die auf der Straße rumhängen und warum fahren die Mototaxis wie die Bescheuerten?”
Die anfängliche Unsicherheit wich zwei Tage später einem Gefühl von Euphorie und Verliebtheit. Ich mochte plötzlich das Chaos und die Andersartigkeit. Nein, besser – ich liebte es und wurde mutiger!
Wir hatten schon unseren kleinen Stamm- Supermarkt, in dem wir immer lächelnd begrüßt wurden, ich verlor meine Schüchternheit, als eine alte Dame Hilfe auf der Treppe brauchte und wurde vom Nachbarn zum Açai– Sorbet eingeladen. “Hmmm, wie lecker!”
Ein Bild im Kopf wird wahr
Wie ich schon am Anfang erwähnte, hatte ich eine präzise Vorstellung von mir auf einem Mototaxi im Kopf, die tatsächlich wahr wurde! Dazu musste ich aber erstmal auf so ein rasantes Ding steigen. Ich krallte mich am Fahrer fest und wusste nicht, ob ich Lachen oder Weinen sollte. Denn eins hasse ich noch mehr als Bananen und das ist Geschwindigkeit! – Aber ich wollte unbedingt ja!!!
Nach der ersten Fahrt lagen meine Freundin und ich uns voller Adrenalin in den Armen. Survived √ Getraut √ Und Bild?? -Jap, nach meiner zweiten Fahrt überraschte mich meine Freundin tatsächlich mit einem unbemerkten Schnappschuss! Bild √
Das ich mich in diesem Moment am Motor der Maschine verbrannte sieht man nicht! Aber ich steh auf meine Favela- Narbe, ein besseres Erinnerungsstück als ein Tattoo. 😀
Das Leben in der Favela Vidigal
Die Favela Vidigal gilt als “mais ou menos” – mehr oder weniger sicher. Ungefähr 30.000 Menschen leben hier und profitieren immer mehr von dem Boom des Favela-Tourismus, der grandiosen Lage und Aussicht. Erst seit wenigen Jahren führt nun eine Hauptstraße durch die Favela, was das Leben definitiv leichter macht. Damals hatten die Menschen keine andere Wahl und mussten unter widrigen Umständen dort leben – Heute entscheiden sie sich teilweise freiwillig dazu. Aber ich möchte hier nichts beschönigen – das Leben in einer Favela ist nicht einfach und vor allem schwierig, wenn man älter wird!
Nachdem ich meine anfänglichen Ängste einordnen konnte, die ganz sicher auch durch Medien und Horrorstories entstanden waren, hatte ich eine richtig gute Zeit. Überzeugt haben mich vor allem die Menschen und das brasilianische Lebensgefühl. Ihre Offenheit und auch mein Interesse am Unbekannten haben mir geholfen mich auf dieses Abenteuer einzulassen.
Ich kann an dieser Stelle nur von meinen Erfahrungen berichten – Mir ist glücklicherweise nichts passiert, denn vermutlich war ich einfach am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Aber definitiv ist das nicht für jeden die richtige Urlaubsart und auch sollte man sich nicht, wie im Zoo benehmen. Respektvoller Umgang und Akzeptanz spielen für mich auf meinen Reisen eine sehr wichtige Rolle.
Um trotzdem einmal sicher eine Favela zu sehen kann man beispielsweise auch eine geführte Tour durch die Nachbar- Favela Rocinha machen.
Dinge, die ich vorher nicht wusste
Bleibt noch die Frage nach dem ängstlichen Taxifahrer: Also warum fuhr er nicht in die Favela Vidigal? – Es war keine Angst! Er durfte einfach nicht! Nur bestimmte Taxiunternehmen und natürlich die crazy Motos haben die Erlaubnis in der Favela zu fahren. 😛
Und um noch mal auf den Film “City of God” zurückzukehren. Die meisten Darsteller der Story kamen tatsächlich aus den Favelas in Rio, darunter auch einige aus der Favela Vidigal! Vermutlich wirkt der Film deshalb so authentisch und auch so beängstigend.
“Mein Herz hatte gewählt und es war absolut richtig diesem Ruf zu folgen.”
Am letzten Abend tauchten meine Freundin und ich ein letztes Mal in die Tiefen der Favela ab – Aber dieses Mal fühlte ich mich wohl!
Dazu hörte ich passend Reggae von Natiruts aus Rio! – Hammer!! Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich den Song höre und an die Zeit in meiner Favela denke. 😉
Kehre auch seit einer Zeit regelmäßig nach Vidigal zurück. Kann deine Eindrücke teilen – ein wunderbar lebendiger Ort.
Das mit den Taxi-Unternehmen glaube ich allerdings nicht. Da kann jeder reinfahren, wie er lustig ist, die wollen nur meistens nicht oder haben tatsächlich Angst.
Kleiner Tipp fürs nächste Mal: wenn du es auf dem Mototaxi mal richtig krachen lassen willst, sag dem Fahrer, du möchtest eine Fahrt “com emoção” 😉 Aber schön festhalten!
Zum Film “Cidade de Deus”, einer der Darsteller hat anscheinend vor ein paar Wochen einen Polizisten in Vidigal erschossen: http://metro.co.uk/2017/07/26/city-of-god-actor-wanted-over-killing-of-rio-police-officer-6806368/
Grüße
Kay
Hallo Kay!
Danke dir für dein Feedback! Es freut mich, dass dir das Viertel auch gefällt. Außerdem passt deine Beschreibung zu Vidigal perfekt: “wunderbar lebendig”! Vielleicht war es das, was mich dort so glücklich machte. Bei meinen Recherchen für den Artikel bin ich leider auch über die Meldungen des Polizisten-Mords gestolpert und war ziemlich schockiert. Die Kriminalität in manchen Favelas nimmt auch nun wieder zu, da weniger Polizeikontrollen stattfinden. Natürlich gehören solche Infos auch irgendwie in einen Artikel, aber ich wollte keinem Angst machen – im Gegenteil, ich möchte, dass die Leser mutiger werden und ihren eigenen Vorstellungen folgen. 🙂
Ich weiß nicht, ob die Information, dass es sich um eine Uber Fahrt handelte entscheidend ist? Ich habe im Laufe meines Aufenthaltes auch mehrmals versucht in Vidigal ein Uber zu bekommen, allerdings erfolglos. Die Aussage, die ich übernommen habe stammte von einer Hostel Mitarbeiterin. Ich werde das noch mal versuchen genauer in Erfahrung zu bringen. 🙂
Und vielen Dank für den Tipp für eine weitere krachende Fahrt auf dem Moto, aber ich bleib doch lieber mit beiden Beinen fest am Boden. Ich bin schon stolz darauf, dass ich mich überhaupt getraut habe! 😉
Deine Fotos aus Brasilien sind übrigens richtig richtig toll!
Liebe Grüße Inga